Rückblick
Woher kommt eigentlich das Wellenreiten?

Sylt. und Wellenreiten – das ist wie Pommes und Mayo: irgendwie gehört’s zusammen, auch wenn es nicht immer ganz stilecht ist. Klar, die Nordseewellen sind nicht gerade Pipeline-Format – wer hier von perfekten Wellen spricht, hat vermutlich auch schon mal einen Friesenwall für ein Riff gehalten. Aber an manchen Tagen, wenn der Ostwind bläst und der Weststurm vorher ordentlich aufgeräumt hat oder sich tatsächlich mal ein Groundswell bis an die Insel verirrt, dann fühlt sich Sylt kurz wie das kleine Hawaii. Die restlichen Tage? Da reicht’s immerhin für ein bisschen Planschen mit dem Board – und das fast jeden Tag.
Genau genommen ist Sylt so etwas wie das Epizentrum des deutschen Brettsports. Egal ob Wellenreiten, Windsurfen oder Stand-up-Paddling – irgendwo steht immer jemand mit einem Brett im Wasser. Aber das Wellenreiten hat auf Sylt eine ganz besondere Stellung, quasi wie der erste Platz beim Beachvolleyballturnier – nur mit mehr Sand in der Hose.
Wer wissen will, wo das Wellenreiten eigentlich herkommt, muss allerdings tief in die Vergangenheit eintauchen. So tief, dass selbst Google kapituliert. Für die Jüngeren: Wir reden von einer Zeit vor 1993, als Internet noch nach Science-Fiction klang. Damals, als unsere Vorfahren dem Nachbarn noch mit der Keule die Erdhöhle streitig machten und sportliche Betätigung bedeutete, einem Mammut hinterherzulaufen. Sylt? Gab’s noch nicht. Tourismus? Fehlanzeige. Während wir also noch überlegten, wie man ein Dach baut, surften die Menschen auf der anderen Seite der Welt schon längst auf den Wellen – vermutlich mit mehr Stil, als wir je beim Strandspaziergang hinbekommen werden.
Einige Gelehrte sind der Ansicht, es habe bereits 4.000 v. Chr. viele Menschen in Polynesien gegeben, die dort gelebt und gesurft haben. Die Mutter aller Brettsportarten unterschied sich beträchtlich vom Surfen, wie es 2500 Jahre später praktiziert werden sollte. Die Polynesier spielten mit Reisigbündeln oder Baumstämmen in den Wellen und ließen sich in der Brandung treiben. Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, dürfte es eher eine antike Form des Bodyboardings entsprochen haben. Doch das rasche Bevölkerungswachstum im Zentrum Polynesiens, dem Bereich um die Marquesas-Inseln, kam es in kürzester Zeit zu großen Konflikten um den Lebensraum, der immer knapper wurde. Das Volk der Polynesier musste sich zwangsläufig in alle Richtungen ausbreiten.
Zunächst wurden die Osterinseln bevölkert und dann folgte die für den Boardsport relevante Besiedlung: die der hawaiianischen Inseln. Auch auf Tahiti entwickelte sich das Surfen weiter – sogar bis zu stehenden Wellenreitern. Doch das Epizentrum des Surfens sollte Hawaii werden. Nicht nur Surftechniken, auch die Kunst des Boardbauens stammen von der Inselgruppe. Die Bedeutung Hawaiis für den Brettsport lässt sich auch an der Vielzahl der Firmen ablesen, die sich und ihre Produkte nach bekannten Orten der Inselgruppe benannt haben. Hawaii – der größte Archipel Polynesiens, Entdecker und Namensgeber der Inseln – hätte sich wohl über die Auswirkungen, die sein Schaffen nach sich gezogen hat sehr gefreut. Es dauerte bis zum Jahre 1778, bis die westliche Kultur das Surfen zum ersten Mal wahrnahm. Der Brite James Cook, der Hawaii für den Westen entdeckte, notierte in seinem Tagebuch: „… sie schienen großes Vergnügen an der Bewegung zu haben“. Gemeint waren die Ureinwohner, die in den Wellen stehend auf ihren Brettern ritten. Wenngleich Cook kritisch anfügte, dass diese das auch taten. Das „hee nalu“, so der hawaiianische Ausdruck für das Surfen, war zu diesem Zeitpunkt zur Sportart der Könige herangereift. Für „Normalsterbliche“, die nicht der Königsfamilie angehörten, bedeutete es, bestimmte Wellen nicht surfen zu dürfen. James Cook überlebte seine Entdeckung nicht lange. Nach Streitigkeiten mit den Ureinwohnern starb er einer Überlieferung nach, weil er in die falsche Welle geraten war. Ob er in die falsche Welle geraten ist, ist nicht überliefert. Wohl aber dass sein Nachfolger Charles Clerke die Leiche nur nicht wieder bergen konnte. Es galt auf Hawaii als Tradition, im Kampf den Inseln dazuzuzählen. Kämpfer galten als blutrünstige – hatten und haben auf den Inseln einen hohen Stellenwert.
Der Bruch mit einigen dieser Traditionen führte zu Bestrafungen aber auch zum späteren Surfboom. Eine der wichtigen Traditionen war das Kapu oder Tapu. In der westlichen Welt als Taboo, in Deutschland unter Tabu bekannt. Es bezeichnete etwas Unantastbares, Unverletzliches oder Geheimnisvolles. Eine genaue Definition gab es nicht, demzufolge können es Dinge oder Örtlichkeiten gewesen sein. Normalerweise diente das Kapu dazu, Ressourcen oder Rechte zu schützen. Bevor die Engländer nach Hawaii kamen, gab es ein Kapu für den Fischfang, eine Art Begrenzung der Fangmenge. Etwas, womit sich die Industrienationen erst Jahrhunderte später befassen sollten. Besagtes Kapu galt auch für das Surfen.
Denn nur mit der Aussprache des Kapus wurden die Surfbretter der Königsfamilie geschützt. Mit ihren „olos“, die sie selbst aus der Koa-Akazie oder Hölzern des Wiliwili Baums bauten, ritten die Mitglieder der Königsfamilie auf den Wellen. Es wurden nur bestimmt Sorten Holz verwendet. Sogar eigene Gesänge und Gebete gab es für das Wellenreiten. Dem gemeinen Volk waren die kleineren Boards, die „alaias“ vorbehalten. Die „olos“ waren bis zu sieben Meter lang und beinahe einhundert Kilo schwer.
Im Jahr 1819 drei Jahre vor dem Eintreffen westlicher Missionare, starb König Kamehameha I, der letzte große König Hawaiis und ein Ausnahmesurfer. Sein Tod bedeutete das Ende der Kapu-Tradition. Das Surfen avancierte zu einer Art Volkssport. Denn nun konnte das gemeine Volk auch an bisher verbotenen Surfspots die Wellen abreiten.
Traditionell surften Frauen und Männer zusammen und dies nackt, wie Cook bereits schrieb. Betrachtet man die Aussagen des Briten vor Augen, wird eines klar: Diese Zivilisation passte nicht in die „moderne“ Welt. Fast zwangsläufig beschlossen die Kirchenmänner, diesem Sündenpfuhl den Garaus zu machen.
Das Surfen wurde verboten und damit ein großer, wesentlicher Teil der hawaiianischen Kultur. Das war jedoch, verglichen mit dem, was den Ureinwohnern noch bevorstehen sollte, nur ein kleines Übel. Innerhalb der nächsten 100 Jahre, bis zur Annektierung durch die USA, verloren die Inseln den Großteil ihrer Bewohner durch Seuchen – wie zum Beispiel die Pocken. Von den 800.000 Einwohnern verblieben nur noch 40.0003.
Das Verbot des Surfens war in Anbetracht des Adelsrasses, dem sich die hawaiianische Gesellschaft ausgesetzt sah, kaum erwähnenswert. Siebzig Jahre lang wurde das Surfen aus den Köpfen der Hawaiianer und den Wellen des Pazifiks verdrängt. Verdrängt aber nicht vergessen; immer gab es eine kleine Gruppe von Surfern, die den Sport ausübten. Doch die generelle Entwicklung des Wellenreitens stagnierte auch deshalb, weil die Hawaiianer über keine schriftlichen Aufzeichnungen verfügten und somit nach zwei Generationen ein Teil der Riten, Techniken und Traditionen verloren ging. Die Gründung eines Surfclubs im Jahre 1908 löste schließlich erneut das Surfieber aus, das wir bis in heutigen Tage kennen und die Entwicklung vieler Brettsportarten bildet. Duke Kahanamoku, zweifacher Olympiasieger und Schwimmer, haben Surfer in dieser Hinsicht viel zu verdanken. Die damalige Zeit machte es ihm zur Aufgabe, das Surfen weltweit bekannt zu machen. Im Alter von 21 Jahren nahm er an einem Schwimmwettkampf im Hafenbecken von Honolulu teil und unterbot den bis dahin bestehenden Weltrekord um 4,6 Sekunden. Erst viele Jahre später wurde dieser Rekord auch anerkannt.
Bei den Olympischen Spielen 1912, gewann er Gold und unterbot bei den Qualifikationsläufen erneut den Weltrekord. Auch 1920 in Antwerpen gewann er die Goldmedaille. Nach seinem Rücktritt vom Leistungssport nahm in vielen Ländern an Schwimmvorführungen teil. Speziell in den USA und Australien sorgten seine zusätzlichen Vorstellungen des Surfsports für Furore. War der Sport bis dato nur in seiner Heimat bekannt, lösten seine Vorführungen eine erste Welle der Brettsportarten aus. Schon bald experimentierten weltweit viele mit neuen Formen und Materialien, um den perfekten Surfstil zu kreieren. Tom Blake entwickelte in den darauf folgenden Jahren besonders leichte Hohlbretter, die den Surfsport revolutionierten. Duke wurde später zum Sheriff von Honolulu ernannt. 1977 starb er an einem Herzinfarkt. Sein Spitzname war „The Kahuna“. Ein Ausdruck, der auch viel im esoterischen Bereich verwendet wird.
Kahuna bedeutete im Hinblick auf Duke, dass er als Hohepriester des Surfens galt. Auch hier adaptierte eine Firma aus Utah/Vereinigten Staaten den Namen und nannte sich „Kahuna Creations“, um unter diesem Namen Paddel für Longboards im Skatebereich zu vertreiben. Viel stolzer hätte es Duke Kahanamoku sicher gemacht, dass Quentin Tarantino den Namen einer fiktiven Burgerkette im Film „Pulp Fiction“, nach Dukes Spitznamen benannte. Dieser Big Kahuna Burger hätte wohl auch dem Duke geschmeckt.
In den 50er- und 60er-Jahren wurde das Surfen so angesagt, dass selbst Elvis neidisch geworden wäre. Die Welle schwappte – im wahrsten Sinne des Wortes – von Hawaii über Kalifornien bis an die französische Atlantikküste. Plötzlich war das Baskenland rund um Biarritz und Hossegor der Place-to-be für alle, die lieber auf dem Brett als auf dem Handtuch lagen. Und das ist bis heute so geblieben: Wer Surfen in Europa ernst meint, kommt an diesen Spots nicht vorbei.
Doch auch Deutschland mischte mit – und zwar nicht irgendwo, sondern auf Sylt! Die Insel kann sich mit Fug und Recht als Wiege des deutschen Surfens feiern lassen. Die Sylter Rettungsschwimmer waren damals echte Pioniere: Während andere noch über Schwimmflügel nachdachten, surften sie schon mutig auf ihren Rettungsbrettern durch die Nordseewellen. Einige Insulaner packte das Fernweh – sie reisten nach Biarritz, importierten von dort die ersten echten Wellenreitbretter und brachten so den Surfboom nach Deutschland. Namen wie Dieter Behrens, Uwe Draht und Walter Viereck sind bis heute Legende – und man trifft sie, unglaubliche 60 Jahre später, immer noch auf dem Wasser. Einer ihrer „Ziehsöhne“, Jürgen Hönscheid, wurde sogar Windsurfprofi. Erst eine fiese Halswirbelverletzung konnte ihn auf dem Weg zum Weltmeistertitel stoppen.
1966 wurde dann der Surfclub Sylt e.V. gegründet – mit eigenem Häuschen am Strand, versteht sich. Hier treffen sich die Sylter Surfer (Mitgliedsausweis nicht vergessen!), fördern den Nachwuchs und geben das Bewusstsein für Natur und Umwelt weiter. Surfen auf Sylt ist eben mehr als ein Sport – es ist ein Stück Inselkultur.
Vielleicht ist der Einfluss des Surfens auf Sylt nicht ganz so groß wie auf Hawaii, aber er kommt verdammt nah ran. Die Nordseewellen sind zwar oft eher schwabbelig als spektakulär, aber das stört hier niemanden. Für die fünf oder zehn Sekunden, in denen man eins mit der Kraft des Meeres wird, sitzen die Surfer stundenlang in der kalten Brühe auf ihren Boards. Surfen gilt als Individualsport, aber das Gemeinschaftsgefühl auf Sylt ist riesig. Localism, also das aggressive Verteidigen der besten Welle, ist hier fast unbekannt – es gibt schließlich genug Wasser für alle. Die Friesen sind zwar manchmal ein bisschen stur, aber ihre Gastfreundschaft gewinnt am Ende immer. Und mit einem herzlichen „Noin“ und einem Lächeln zaubert man selbst dem wortkargen Local ein Kopfnicken – und vielleicht sogar ein echtes „Moin“ – aufs Gesicht.
Geschrieben von: Alex Lenz / veröffentlicht am: 12.06.2025