Die Manfred Degen Kolumne
Nipptide und Ostwind #18/2025

Irgendwo an der Ostsee, in einem Yachthafen an der Flensburger Förde, an einem Wochenende Ende Juli: Sonnenschein mit fünf Windstärken aus Ost. Fallen klappern, Wimpel flattern. Auf allen Booten hektische Betriebsamkeit. Crewmitglieder schleppen Proviant über wackelige Stege, Leinen werden aufgeschlagen, die ersten Yachten verlassen unter Motor den Hafen und kaum sind sie draußen, gehen die Segel hoch, die Boote nehmen Fahrt auf, schieben gewaltig Lage, die Bugwelle schäumt, die Stimmung ist super, hundert weiße Segel bis zum Horizont. Das Seglerherz lacht – heute stimmt alles.
Nur gut 100 Kilometer weiter westlich, gleicher Tag, gleiche Stunde, in einem kleinen Tidehafen südlich von Westerland. Sonntagmorgen, Sonnenschein, strammer Wind aus Ost mit fünf Windstärken. Crewmitglieder schleppen leere Getränkeflaschen von den Booten über wackelige Stege. Es ist drei Tage nach Halbmond, es ist Nipptide. An solchen Tagen kommt nur ganz wenig Wasser für auch nur kurze Zeit. Dazu dann strammer Ostwind. Der sorgt heute dafür, dass überhaupt kein Wasser kommt! Nur wenn man sich auf den Deich stellt, kann man das Wasser sehen – ganz da hinten im Priel blinkt es frech in der Sonne.
Die Boote liegen im Hafenschlick. Im Hafenschlick knispelt und knaspelt es, das Watt lebt. Die Skipper sitzen in ihren Booten, schweigend, die Augen auf halbacht. Mal kurz rüber zum Fischmarkt nach Föhr oder in die „Blaue Maus“ nach Amrum – das kannst du alles knicken heute. Stattdessen ist Rost klopfen angesagt, Deckschrubben, die Bilge muss gestrichen und Frischwasser soll gebunkert werden. Außerdem ist das Leselicht im Vorschiff defekt.
Doch der Skipper sitzt weiter in der Plicht und denkt nach: Das kann alles warten. Worum geht‘s denn eigentlich im Leben? Rausfahren, das ganze Segelzeug hochzerren? Gischt fliegt einem um die Ohren, beim Segelbergen verabschieden sich alle Fingernägel von dir und beim Anlegen zerlegst du womöglich den Steg. Am Abend bist du wieder da, wo du auch am Morgen schon warst. Nichts hat sich verändert. Nur das Bier ist alle und Hunger quält.
Gutes Stichwort: Hunger! Ein Lächeln überhuscht das derbe Gesicht des Seglers. Jetzt wollen wir erst einmal die Reusen kontrollieren. Hat die letzte Flut was gebracht oder müssen wieder Dosen-Ravioli auf die Teller geschlumpft werden? Tatsächlich: ein halbes Dutzend Meeräschen warten in der Reuse darauf, ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt zu werden.
Auf dem Rückweg, kurz bevor die Pfanne mit Olivenöl heißgemacht wird, werden noch ein paar Austern von der Buhne gepflückt. Ein kurzer Anruf dann bei Schwager Berthold, der in seinem Schrebergarten wühlt. Eine Stunde später erscheint er mit einer Schüssel Salat, reifen Tomaten und frischen Getränken. Und während die Tomaten mit den Meeräschen in der Pfanne brutzeln, werden die Austern mit einem leichten Weißwein verköstigt. Dann, die Stimmung ist schon merklich aufgehellt, werden die köstlichen Fische aufgetragen und unsere Gedanken fliegen rüber zur Ostseeküste, wo die heimgekehrten Ostsee-Segler sich gerade die Dosen-Ravioli warm machen.
Nipptide – ich sach‘ mal so: Für einen Westküstensegler ist das immer wieder ein kulinarisches Großereignis…
Geschrieben von: Manfred Degen / veröffentlicht am: 24.07.2025