Eine Kurzgeschichte von Angela Kirschke
Zurück und empor
Foto: Angela Kirschke Das Bild zeigt die Autorin der Kurzgeschichte, Angela Kirschke, auf dem Preikestolen. Die Felskante fällt 604 Meter senkrecht in den fast 40 Kilometer langen Lyse-Fjord ab.Es war eine Bewegung, wenn er sich daran erinnerte. Eine Bewegung, die zu einer Erinnerung wurde, die ihn in der kommenden Zeit immer wieder erschütterte, die ihn wahrscheinlich nie mehr loslasssen würde.
Sie waren gemeinsam losgefahren, nach ihrer Hochzeit in die Flitterwochen, in den kühlen Norden mit seinen schroffen Gebirgen, gigantisch steilen Felsen, Fjorden, uralten Bäumen, die wie Trolle aussahen, kurvenreichen Straßen und unendlich vielen Tunneln, die sich in die Berge fressend, durch die Berge hindurch ihren Weg bahnten.
Sie hatte schon einen deutlich runden Bauch. Die Hochzeit war eigentlich zu spät terminiert gewesen, aber dann war sie doch wunderschön und stimmig, ein Liebesfest, wie er es niemals erwartet hätte.
Ein inneres Bild durchbrach seinen Erinnerungsfluss. Er sah sie deutlich vor sich, wenn sie manchmal nachdenklich versonnen in ihren runden Spiegel sah, als suchte sie eine stille Konversation mit sich selbst. Zärtlich lehnte sie ihre Stirn an die ihres Spiegelbildes, das sie aus seiner entfernten Sicht in diesem Moment verdoppelte wie siamesische Zwillinge.
Er konnte es manchmal kaum erfassen vor Glück, mit dieser Frau vor den Traualtar geschritten zu sein. Einmal hatte sie ihm Fotos aus einem alten Album gezeigt. Teenagerfotos mit ihren Freunden, mit ihren Eltern. Er hatte gesucht beim Betrachten der Bilder, nach den Ursprüngen ihrer sagenhaften fragilen, leichten und doch ernsten Schönheit.
Die Wahl für ihr Hochzeitsreiseziel war ihnen gar nicht schwer gefallen, denn sie liebten dieses Land da weit im Norden, wo sie sich vor gut drei Jahren kennengelernt hatten. Da war es für sie beide wie selbstverständlich gewesen, dass sie die Hochzeitsreise dorthin machen wollten, zurück zu den Orten ihrer ersten Begegnungen. Die ersten Tage waren schon vorüber gegangen, getaucht in wohlig umhüllende Wärme, bei glutroten Sonnenuntergängen.
Heute war es bedeckt, als sie das sorgfältig geplante Ziel erreichten: den Fuß des Preikestolen, auf den sie steigen wollten. Sie stellten das Auto auf dem großen Parkplatz am Rand des Bergmassivs ab und begannen mit dem Aufstieg.
Er sorgte sich um sie, da sie ja etwas zu tragen hatte, aber sie war freudig und fühlte sich stark genug, den Aufstieg zu wagen. Leicht lief sie den Weg entlang, fand mal rechts, mal links am Wegesrand etwas Besonderes. Einmal rief sie ihn zu sich voller Begeisterung über einen Marienkäfer auf einer prächtigen gelben Blütendolde. Welch ein Kontrast das war. Einfach und darin unübertreffbar.
Auf etwa halber Wegstrecke begann es zu regnen. Ein Gewitter zog heran und verdunkelte den Himmel. Eine tiefgraue Wand schob sich über sie. Sie stiegen weiter bergan.
Als sie schließlich die Plattform hoch oben erreichten, waren die meisten Wanderer schon im Begriff, wieder hinunter zu steigen. So waren sie auf dem riesigen flachen Felsen schließlich ganz allein und hatten einen unglaublichen Blick auf den Fjord, der sich hunderte von Metern unter ihnen ins Felsmassiv geschnitten hatte im Lauf von Jahrmillionen.
Sie wurde ganz übermütig, ging nahe an den Rand, um hinunter zu sehen. Die Felsenplattform, auf der sie standen, ragte weit über. Es gab keinen Zaun, keine Abgrenzung zur Sicherheit, wie im regelwahnsinnigen Deutschland.
Und dann, ganz unerwartet, ging sie noch näher an den Rand, breitete ihre Arme weit aus und sprang empor, als wollte sie losfliegen in den Himmel, der sein Grau schon wieder verloren hatte und ein tiefes Blau freigab.
Sein Leben zerriss in diesem Moment, und immer wieder spürte er diese Bewegung von ihr: zurück und empor, wie eine nie enden wollende Schleife.
Viel später, im Gerichtssaal, er wusste nicht, ob er noch lebte, oder nur in einem unendlichen Alptraum gefangen war, schlug der Richter mit seinem Hämmerchen kräftig auf die Unterlage, um die Anwesenden zum Schweigen zu bringen, damit er sein Urteil über ihn verkünden konnte. Er war schon gebrochen. Das Urteil würde ihm den Rest geben.
Man hatte Anklage gegen ihn erhoben, schuld am Tod seiner Frau zu sein. Seine Jeans wurde enger, drückte ihm den Bauch ab. Verstohlen öffnete er den Knopf und der Reißverschluss rutschte etwas herunter. Er wollte nicht für das unverschuldete Unglück seines Lebens verurteilt werden.
Einmal noch, dachte er und atmete tief aus, atmete alles aus, was er noch hatte. Das war ja nicht mehr viel. Noch einmal spannte er seine Muskeln, so wie er es wochenlang geübt hatte, und ließ seinen Körper nach vorne schnellen, so dass sein Gesicht mit voller Wucht auf die Tischplatte vor ihm aufschlug.
Es wurde gleich angenehm dunkel um ihn, halb spürte er noch, dass er zur Seite kippte, während er an Hölderlins Worte dachte: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos.“
Dann war es vorbei.
Geschrieben von: Angela Kirschke / veröffentlicht am: 27.12.2023