Die Manfred Degen Kolumne
Heimatdichter Hessenschreck #28/2025
Foto:
Archiv
Es begab sich vor einigen Jahren, dass eine Senioren-Wandergruppe aus dem schönen Land der Hessen auf Sylt urlaubte. Es war im November und wie wir wissen, ist der November nicht jedermanns Sache. Da hält der Mensch seine gute Laune schon mal flach und das Wetter hilft ihm gerne dabei.
Nun gut. Die Wandergruppen-Domina spürte irgendwann, dass sie ein Abendprogramm anbieten müsse, wollte sie die labileren Schlurfis in ihrer Gruppe nicht in Depressionen treiben. Also erfragte sie beim Heimleiter das Sylt-November-Entertainment-Programm. Das war natürlich totale Steppe. Alle Inselführer, Lichtbildvorträger, Gitarrenzupfer und Trachtentänzer waren im Urlaub, zur Darmspiegelung, in Beugehaft oder auf Entzug.
Nur der Friesenkomiker in seiner Geldgier lauerte am Telefon und rannte voll ins hessische Messer. Ja, ich wurde, was ich erst später mitbekam, der Gruppe als gemütlicher Heimatdichter verkauft, der heitere Anekdötchen erzählen würde.
Also machte ich mich – davon nichts ahnend – auf Richtung Vogelkoje Kampen, um dort nach mehreren Fehlversuchen die richtige Abfahrt zu finden und dann den verabredeten Treffpunkt anzusteuern.
Ein nasser Nordwestwind pfiff durch die seit der Eiszeit unveränderten Vegetation, ein Häufchen lodenvermantelter Hessenrentner stemmte sich gegen den Wind und trottelte dann hinter einem Zivi her, der einen Pavillon aufschlüsselte, einige hundert Meter entfernt vom Appellplatz, mitten in der trostlosen Natur, Typ Wehrmachtsbau unsaniert – Resopaltrostlosigkeit unter Neonlicht.
Meine klapprigen Klienten – mehrere Weltkrieg I-Teilnehmer unter ihnen – nahmen Platz, ohne sich ihrer groben Wetterkleidung zu entledigen, überstülpt von Kopfbedeckungen, wegen derer sie an guten Tagen leicht eine Entmündigung oder Zwangseinweisung hätten provozieren können. Jede Minute wurde mir klarer, dass sich da eine unlösbare Aufgabe auftürmte.
Hier prallten zwei Welten aufeinander, die nichts voneinander wussten und eigentlich auch nichts miteinander zu tun haben wollten. Doch egal! Jetzt erst recht! Sekundenschnell – wie ein Hochleistungscomputer – hatte ich mein Programm umgestellt – ich zog quasi das C-Programm auf die Festplatte, halt die Plots mit der schlichten Dramaturgie, pantomimisch stark untermauert, mit Augenrollen, grimassierender Mimik und Stimmdruck wie ein Fischauktionator – ja, ich ließ den Quasimodo in mir von der Leine!
Keine Reaktion, die Gruppe saß da wie ein Haufen Auswanderer in Bremerhaven, bei denen so langsam die Zweifel an ihrer kühnen Entscheidung Platz greift. Einer war vergeblich bemüht, sein Hörgerät einzustellen, was mit jaulendem Gepiepe im Obertonbereich begleitet wurde. Na gut, der Mann war bemüht – mein bisher größter Erfolg an diesem Abend.
Der wachhabende Zivi, so ein blondgelockter Surf-Rabauke, stand wie ein Knast–Schließer mit verschränkten Armen an der Tür, klapperte mit dem Schlüsselbund und schaute alle drei Minuten auf die Uhr.
Ich wollte Blickkontakt zu meinen Schutzbefohlenen aufnehmen, ich schaute jedoch in leere Augen: Menschen, deren Humor-Sozialisation durch 30 Jahre „Blauer Bock“ stattgefunden hat, Menschen, die erst in der Säuerlichkeit hemmungsloser Äbbelwoi-Orgien Glanz in die Augen bekamen. Menschen, die Roland Koch zum Landesvater gewählt hatten.
Während mein Stammhirn das Rentnerprogramm abspulte, meldete sich entnervt das Großhirn: „…komm, Alter, das wird hier nix mehr. Mach‘ den Tschüssikowski, pack ein und zieh Leine, bevor dir da jemand wegschnarcht…“
Aber das Problem löste sich schon von allein: Die ersten standen auf und verließen gruß- und blicklos das Schlachtfeld. Ich machte eine verbale Vollbremsung, warf ihnen noch schnell einige hingelogene Nettigkeiten über Kassel und Hessen vor die Füße und versuchte, mit kalten Blicken den Zivi zu töten, der mich triumphierend angriente, da er nun eine Stunde früher Feierabend hatte. So konnte er gleich nach Ausknips und Einschluss seiner Rentnerbande in sein in Strandnähe geparktes Wohnmobil klettern und über seine dort wartende Freundin herfallen.
Ich stieg ganz allein in mein novemberwind-umsaustes Auto und spürte ganz doll, dass mein Beruf mich nicht mehr liebt. Ich überlegte ernsthaft, diesen Gauklerjob aufzugeben und was ganz anderes zu machen – „…irgendetwas ohne Menschen…“
Doch dann schaltete ich mein Navi-Gerät ein und löschte das Heim, die Stadt Kassel, den Landkreis Kassel und das ganze babbelige Hessen für alle Ewigkeit. Vorteil? Nun, für mich beginnt jetzt das lebensfrohe und humorbegabte, kauzige und so valentineske Bayernland schon gleich hinter Göttingen!
Geschrieben von: Manfred Degen / veröffentlicht am: 17.10.2025











