Rückblick
Als Sylt das Windsurfen eroberte

Sylt. Sylt ist seit jeher das Erste, was den meisten in den Sinn kommt, wenn sie an Wassersport in Deutschland denken. Unsere neue Serie widmet sich den Sportarten, die in der rauen Nordsee zur Legendenbildung rund um die Insel beigetragen haben. Sylt gilt als Mutter der meisten Boardsportarten in Deutschland. Lässt man das Snowboard außen vor, bleiben Wellenreiten, Kitesurfen, Foilen und Stand-up-Paddling. Selbst das Skateboarding hat in Deutschland seine Wurzeln auf Sylt. Eigentlich sollte diese Serie mit dem Wellenreiten beginnen, dem Ursprung aller Boardsportarten. Doch aktuell läuft das Summer Opening am Brandenburger Strand, und hier sind die Windsurfer unterwegs. Deshalb stellen wir heute die Stehsegler vor – und mit ihnen Naomi Albrecht.
Naomi Albrecht hat auf den ersten Blick nichts mit Sylt zu tun. Sie war nie auf der Insel, vermutlich kennt sie Sylt nicht einmal. Und doch haben wir ihr viel zu verdanken. 1964 war Naomi Albrecht die erste Frau, die auf einem Windsurfboard stand – oder genauer: auf einer Zimmertür mit einem Segel, konstruiert von ihrem späteren Ehemann Sidney Newman Darby Jr. Am Wyoming Mountain Lake in Pennsylvania beobachteten die Menschen damals verwundert, wie Naomi das Spiel mit Wind und Wasser genoss. Das war die Geburtsstunde des Windsurfens – dokumentiert und fotografiert, aber noch weit entfernt von einem Trend oder einer Verbindung zur Nordseeinsel Sylt. In den Verkauf schaffte es die Erfindung von Newman Darby Jr. nicht. Sie galt als Fehlkonstruktion, denn das Lenken war nahezu unmöglich und die kleinste Windböe katapultierte den Sportler ins Wasser.
Kommerziell erfolgreicher und innovativer waren dagegen die Amerikaner Jim Drake und Hoyle Schweitzer. Mit der Entwicklung des Gabelbaums, der verbesserten Segelanordnung und dem wohl meist unterschätzten Teil am Board, der Aufholleine, eroberten sie wenige Jahre später den Markt in den Vereinigten Staaten. Windsurfen wurde dort zur absoluten Trendsportart – allerdings erst, als es im Rest der Welt bereits zum Mittelpunkt der Funsportbranche geworden war.
Das erste Windsurfboard wog rund 45 Kilogramm und wurde Ende der 1960er Jahre zu Wasser gelassen. Was dann geschah, konnten weder die Darbys noch Schweitzer oder Drake ahnen. Badeseen rund um den Globus färbten sich an den Wochenenden in den schillerndsten Farben. Die Segel der Windsurfer standen dicht an dicht. Bilder vom Gardasee mit tausenden Surfern und pinken Segeln erinnerten an überfüllte Schwimmbäder in China. Eine Ära begann, die bis Mitte der 1990er Jahre andauerte. Windsurfen war cool, wurde olympisch und gute Windsurfer verdienten 100.000 Mark Antrittsprämie. Deutsche Windsurfer wie Jürgen Hönscheid oder Bernd Flessner wurden zu Vollprofis. Schon wer eine Halse fahren konnte, bekam Sponsorenverträge. Die Firma Lipstick baute Surfboards, die gar nicht zum Surfen gedacht waren, sondern maßgeschneidert für den Transport auf dem Dachgepäckträger – Hauptsache, man gehörte dazu.
Ein Name sticht unter den Pionieren heraus: Calle Schmidt. Bereits 1972 importierte er Boards aus den USA nach Sylt. Er hatte ein Foto von Drakes Erfindung in der Zeitschrift „Yacht“ gesehen und Hoyle Schweitzer angeschrieben, der die Boards verkaufte. Schweitzer war froh über die Möglichkeit, nach Europa zu liefern, denn in Amerika wollte noch niemand seine Boards haben. So trafen die 4,50 Meter langen Kartons am Hamburger Flughafen ein. Eine Gebrauchsanweisung für die Segel- oder Stehposition gab es nicht, nur den Artikel in der „Yacht“ mit ein paar Tipps. Allerdings fehlte der Hinweis: Nicht bei mehr als drei Beaufort benutzen. Als Segler hatte Schmidt die theoretischen Kenntnisse, wie so ein Brett funktionieren könnte. Doch der ruppige Wind und der Mast, der sich permanent aus dem Gelenk am Board löste, machten die Sache schwierig. Er erinnert sich, dass er seine malträtierten Knöchel und Schienbeine mit Eis kühlen musste. Jeder, der das Windsurfen einmal versucht hat, kennt diese Erfahrung mit dem Wind: Er ist der unbarmherzige Feind, der einen zur Weißglut bringt – besonders bei stärkerem Wind. Genau hier lag das Problem. Calle versuchte sein Glück auf der Westseite der Insel. Schon der Shorebreak stellte ihn vor massive Probleme. Die harten Böen wirbelten ihn und das Board über das Wasser, ohne jede Chance auf ein kontrolliertes Vorankommen. Wutentbrannt rief er mitten in der Nacht Hoyle Schweitzer an und erklärte ihm, dass das Board komplett fehlkonstruiert sei. Niemand in Europa wolle so etwas haben.
Hoyle versprach Calle Unterstützung in Form einer Surflehrerin – seiner 17-jährigen Nachbarstochter –, die ihm das Windsurfen beibringen sollte. Doch bevor diese eintraf, entdeckte Calle die Blidselbucht auf der Ostseite der Insel. Dort, bei zwei Beaufort, fand er sein Glück: Es segelte! Vor Begeisterung schrie er seine Freude über das Wattenmeer hinaus – ein Gefühl, das wohl jeder kennt, der das erste Mal auf einem Windsurfer ins Gleiten kommt. Für einen Moment erlebt man eine Art Schwerelosigkeit. Doch von diesem Gefühl war Calle damals noch weit entfernt. Er war einfach nur glücklich, von Punkt A nach Punkt B zu fahren. Der damals 45-jährige Martin Böttcher, ein bekannter Komponist, der unter anderem die Musik zu den Karl-May-Verfilmungen wie „Winnetou“ schrieb, hörte von Calles Begeisterung und schaute fasziniert vom Strand zu. Böttcher war so angetan, dass er es selbst lernen wollte – und gilt damit als erster Surfschüler Deutschlands.
Kurz darauf entdeckte Gunter Sachs, der „Influencer“ der 60er und 70er Jahre, den Sport und sorgte für weiteres Aufsehen. Calle Schmidt war nicht nur passionierter Segler, sondern auch Marketingfachmann. Er erkannte früh das Potenzial des Windsurfens und informierte einen Fotografen über ein Wettrennen auf der Alster. Die veröffentlichten Fotos sorgten für enorme Publicity, die Calle geschickt nutzte. Außerdem gewann er bei einer Wette eine Kiste „Flens“, was der Geschichte zusätzlichen Schwung verlieh. Die Serie „Gegen den Wind“ adaptierte viele Erlebnisse aus dieser Zeit. Ab diesem Zeitpunkt veränderte das Windsurfen den Wassersport grundlegend.
Calles Surfschule boomte, er importierte containerweise begehrte Boards aus den USA und baute ein Händlernetz auf. Sein Verstand war auf Vertrieb ausgerichtet, um sein Herzensprojekt voranzubringen. Zu dieser Zeit dominierten Männer das Brettsegeln, da der Kraftaufwand, um ein Segel zu halten, immens war. Trapeze, die später zum Gamechanger wurden, gab es damals noch nicht. 1973 organisierte Calle im Herbst die bis dahin größte Windsurffregatta.
Die Wettkämpfe waren so gestaltet, dass alle Teilnehmer ihm folgen mussten, da den Mitstreitern die Rennerfahrung fehlte. Er gab den Kurs vor und gewann jedes Rennen. Dieses Ereignis veränderte den Windsurfsport nachhaltig und markierte den Beginn einer neuen Ära. 127 Stehsegler trafen sich damals in der Blidselbucht – aus heutiger Sicht sensationell.
Der Tidenhub und die auf Sylt vorherrschenden Windrichtungen wären heute undenkbar für eine Windsurfregatta. Damals spielte das keine Rolle. Es war die erste Europameisterschaft, und ein Holländer gewann. Die Windstärke war allen egal – man feierte sich und den Sport.
Kommerziell entwickelte sich das Windsurfen zur Gelddruckmaschine. Auf der „Boot“ in Düsseldorf wurde sogar eine Windmaschine aufgebaut. Bis zu dreihundert Boards verkaufte Calle Schmidt in den Messehallen. Vergleicht man das mit heutigen Absatzzahlen, klingt es unglaublich – heute werden auf Messen vielleicht vier bis fünf Boards verkauft. Damals kostete ein Board 1.440 Mark, ein kleines Vermögen für eine kaum ausgereifte Technik. Doch es gab kaum Alternativen und der Spaß war unbeschreiblich. Es fehlten nur noch die Helden des Sports, über die die Presse berichten konnte.
Auf Sylt wurde so ein Held geboren: Jürgen Hönscheid. Calle traf Jürgen, als dieser 19 Jahre alt war. Hönscheid entsprach mit seinen blonden Locken dem Prototyp des Surfers. Es gab nur ein Problem: Für ihn war Windsurfen ein Altherrensport. Als begeisterter Wellenreiter hielt er wenig von Segeln und dem Herumdumpeln im Watt. Diese Hassliebe ist übrigens bis heute bei vielen Wellenreitern zu spüren. Calle überredete Jürgen, das Windsurfen zu testen, und entdeckte so den besten deutschen Windsurfer aller Zeiten. Gemeinsam wurden sie 1974 Vizeweltmeister im Tandemfahren. Jürgen wurde in den 80ern der erste deutsche Windsurfprofi. Nach seiner Karriere zog er mit seiner Frau Ute auf die Kanaren, eröffnete dort einen Surfshop, shapte Boards und prägte Generationen von Windsurfern. Seine Tochter trat in seine Fußstapfen: Sonni und Janni gewannen beide deutsche Meisterschaften im Wellenreiten. Sonni ist mehrfache Weltmeisterin im Stand-up-Paddling. Mittlerweile ist sie wieder auf ihre Heimatinsel Sylt zurückgekehrt und pendelt zwischen alter und neuer Heimat.
Die Segel- und Surfschule wurde Calles Lebensmittelpunkt und ein geliebter Traum. Zudem war er rund um den Globus unterwegs. Zusammen mit Jürgen Hönscheid flog Calle auf die Bahamas und traf dort auf den Waterman, der den Wassersport bis heute prägt: Robby Naish. Dieser gewann bereits mit 13 Jahren seinen ersten WM-Titel – bei den Herren. Damals hatte er als Leichtgewicht bei wenig Wind einen Riesenvorteil. Am Ende ließ er 400 Surfer hinter sich und legte den Grundstein für eine beispiellose Karriere. 23 weitere Weltmeistertitel holte Robby, bis er 2000 seine aktive Laufbahn beendete. Die meisten Siege errang er auf Sylt, was den Bogen wieder zurückspannt. Je intensiver man sich mit dem Windsurfen beschäftigt, desto deutlicher wird, wie eng das Leben dieser Pioniere mit Sylt verbunden ist.
Und Calle Schmidt? Schon Ende 1974 wurde er auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Der Traum vom großen Geld war geplatzt. Andere Investoren und Händler drängten auf den Markt. Zudem wurde die Produktion der Boards von den USA zu Ten Cate nach Holland verlegt. Die dort gebauten Bretter schmolzen auf dem Autodach buchstäblich in der Sonne. Trotzdem gab Calle nicht auf. Er hatte sein kleines Paradies, in dem er auch Katamarane segelte. Seine Surfschule wurde im Laufe der Jahrzehnte zu dem, was sie heute ist: ein Hotspot für Windsurfer und Segler aller Altersklassen. Die Schule existiert noch immer, und Calle unterrichtet weiterhin selbst. Windsurfen ist heute wesentlich anspruchsvoller als vor 50 Jahren. Fußschlaufen, verstellbare Gabelbäume, einklappbare Schwerter – all das gab es damals nicht. Gleichzeitig ist das Lernen mit den neuen Boards einfacher geworden.
Große Namen wie Naish, Dunkerbeck und Albeau wurden vor Sylt Weltmeister. Der Surfcup, der jedes Jahr Ende September 200.000 Zuschauer anzieht, bleibt das größte Wassersportevent der Welt.
Doch auf der Insel haben Kiten, Wellenreiten und Stand-up-Paddling dem Windsurfen längst den Rang abgelaufen. Auch der Windsurfsport hat sich verändert – die Begeisterung ist geblieben. Calle Schmidt ist immer noch regelmäßig auf dem Wasser. Windsurfen hält jung!
Geschrieben von: Alex Lenz / veröffentlicht am: 05.06.2025