Volle Kisten mit Orangen und große Siege:
Sylt zwischen Kriegsende und Fußballfieber

Sylt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Sylt seine Einwohnerzahl mehr als verdoppelt. Flüchtlinge, zumeist aus den Ostgebieten des ehemaligen Deutschen Reichs, wurden auf der Insel untergebracht. Es war keine einfache Zeit. Hunger und Entbehrungen prägten die ersten Jahre nach dem Inferno, das Europa heimgesucht hatte. In zwanzig oder dreißig Jahren werden die letzten Zeitzeugen nicht mehr unter uns weilen, und die Erinnerungen daran werden im Nebel der Vergangenheit verschwinden. Verblassen wird auch die Erinnerung daran, dass die Jugendlichen an den Stränden der Insel den Flutsaum absuchten, um Dinge zu bergen, die angespült wurden. Ein Ereignis, das Walter Meyerhoff und meine Mutter unabhängig voneinander erzählen, war der Tag, an dem Kisten voller Orangen an die Strände Sylts gespült wurden. Die Freude war riesig, denn die Kinder hatten nie zuvor die leckeren Früchte gekostet. Gierig bissen sie hinein – und spuckten angewidert das Fruchtfleisch wieder aus. Das Salz der Nordsee hatte die Orangen verdorben. Eine kleine Anekdote nur, doch sie wäre bald vergessen, würde man sie nicht aufschreiben.
Walter Meyerhoff hat vieles aufgeschrieben. Meyerhoff war Fußballer, Gastronom, Bauunternehmer und auch bei den Sylter Unternehmern tätig. Wir haben uns in seinem Wintergarten getroffen, und er erzählte von großen Siegen, menschlichen Enttäuschungen und dem Älterwerden in einer Zeit, die immer schneller und oberflächlicher wird. Er war der Mannschaftskapitän einer Fußballmannschaft, die sich in den 60er Jahren anschickte, eines der besten Teams Schleswig-Holsteins zu werden. Noch immer treffen sich die alten Recken und lassen die alten Zeiten aufleben.
Es ist erstaunlich, woran man sich erinnert: an einen Flugkopfball oder eine Grätsche an einem kalten, schmuddeligen Herbsttag im Sylt-Stadion, an den Geruch im Kabinengang – und vor allem an Menschen. Bei Walter Meyerhoff beginnt die Geschichte der Fußballbegeisterung, wie bei so vielen, als kleiner Junge. Auswärtsspiele, wie wir sie heute kennen, mit Ligen und Anreise per Bahn, Auto oder Bus, gab es nach Kriegsende lange Zeit nicht. Der Fußballverein, in dem die Westerländer Jugendlichen spielten, nannte sich FC Süd-West. Walter spielte hier in der zweiten Mannschaft. Punktspiele gab es für die Insulaner nicht. Dort, wo heute der Brandenburger Platz im Sommer hunderte von Autos beherbergt, war vor 70 Jahren ein Fußballplatz. Hier kickten Walter und seine Freunde. Nach der Schule ging es zum Fußball, und erst wenn die Sonne hinter den Dünen verschwand, radelten die Kinder nach Hause.
Die Auswärtsspiele fanden in List, Hörnum oder anderen Dörfern statt. Dort, wo früher Wehrmachtssoldaten untergebracht waren, hatte die Verwaltung Flüchtlinge einquartiert, und so radelte das Team des FC Süd-West zu den Auswärtsspielen auf der Insel. Fußballschuhe waren Luxus. Meistens wurden alte Winterstiefel oder Straßenschuhe getragen. Und ab und zu wurde auf dem Rückweg eine Pause am Fliegerhorst in Westerland eingelegt. Die englischen Besatzer, ebenso fußballverrückt, gaben den Nachwuchsspielern etwas zu essen und zu trinken.
Irgendwann, Mitte der 50er Jahre, begannen die Teams von der Insel auch wieder an den Punktrunden auf dem Festland teilzunehmen. Ein Teil spielte für die Briten, die eine eigene Mannschaft stellten, denn bei ihnen gab es Kartoffeln und Fleisch – quasi als Antrittsprämie. Der FC Süd-West hörte auf zu existieren, und bald liefen die Spieler in den blau-weißen Jerseys des TSV Westerland auf. Mit dem Zug ging es nach Niebüll und von dort anfangs mit dem Fahrrad weiter – auch nach Leck, wo nach dem Spiel ein Eimer Wasser bereitstand. Für das gesamte Team, versteht sich. Später wurden es zwei Eimer, irgendwann kamen Wasserhähne und dann sogar eiskalte Duschen. Die modernen Zeiten brachten Busse mit sich, mit denen das Team durch Nordfriesland tingelte. Da der Zug nach Westerland nur alle vier Stunden fuhr, rannte das Team nach dem Spiel oft in voller Ausrüstung zum Bus, um die Zugverbindung nicht zu verpassen. Erwischten sie ihn nicht, saßen sie in Niebüll fest. Dort am Bahnhof durften sie sich in die Gaststätte setzen, bestellten eine Cola, und der Wirt drückte ein Auge zu, wenn die Spieler ihre Brote auspackten. Durch den Bauboom der 60er Jahre bestand ein Teil der Mannschaft aus Maurern, die gutes Geld verdienten – so wurde die Cola bald mit Rum gemischt. Heimlich. Erstaunt musste der Wirt feststellen, dass die Sylter Mannschaften auch bei Niederlagen feierten.
Auf der Insel wurde der Grandplatz in der Bastianstraße das neue Zuhause der Westerländer Mannschaften. Eine Dusche gab es auch hier nicht. Umgezogen wurde sich im Sommer wie im Winter in einem Bunker, der neben dem Platz lag. Erst später mauerte man Wasserrinnen zum Waschen, die dann irgendwann richtigen Umkleidekabinen wichen. Die Heimspiele wurden mal von 300, später von 1000 Fußballfans begleitet.
Spieler wie „Hoddel“ Laskowski, Walter Meyerhoff oder Ludger Hoeg prägten diese Zeit. Ende der 60er verlor der Sylter Fußball seine Romantik. Püten Kraatz, Volker Koppelt und andere holten Profiteams wie den HSV auf die Insel. Mit dem Geld wurde eine Schleswig-Holstein-Auswahl zusammengestellt und die alten verdienten Spieler auf das Abstellgleis geschoben.
Doch den Spaß ließen sie sich nicht nehmen. Wer es nicht in die erste Mannschaft des TSV Westerland schaffte, spielte eben in der zweiten oder dritten Mannschaft – in einem Verein, der für ein Jahrzehnt seine Bodenständigkeit verlor, nicht aber seine Anhänger. Diese in den Medien hochgelobte Zeit war sportlich gesehen für das eher überschaubare Sylt unfassbar. Meyerhoff und seine Kameraden sahen dies ambivalent. Denn Geld war für sie nie der Grund, gegen das runde Leder zu treten. Kaum ein Sylter Spieler fand sich in den Reihen der ersten Mannschaft des TSV Westerland wieder.
Der TuS Stephan gründete sich in Westerland und bestand einige Jahre. Mit UI Westerland gab es sogar ein dänisches Team. Mit dem TSV Morsum, Sportfreunden List, Fortuna Rantum, SV Hörnum, SC Norddörfer, TSV Tinnum 66, TuS Stephan und drei Herrenmannschaften des TSV Westerland war der Höhepunkt auf der Insel erreicht, auf der ja nur rund 20.000 Menschen lebten.
Das Herbeiholen von Halbprofis im Umfeld des TSV Westerland hatte auch seine guten Seiten. Mit Volker Popp kam 1974 jemand nach Sylt, der das Image der Insel als Kurdirektor und Bürgermeister für über ein Jahrzehnt prägen sollte. Er hatte zuvor in der zweiten Liga gespielt und war bis zu seinem Wechsel nach Timmendorf Vorbild und Libero beim TSV. Er verstarb 2012 viel zu früh an Krebs.
Viele Anekdoten gibt es aus dieser Zeit. Meyerhoff hat sie gesammelt. In Aktenordnern hat er liebevoll Zeitungsausschnitte und viele Briefe zusammengetragen und nach der aktiven Zeit dafür gesorgt, dass sich die Spieler der 60er Jahre immer wieder fanden. Doch die Reihen lichten sich. Einige sind von der Insel gegangen, viele verstorben. Auch viele Todesanzeigen finden sich in den Ordnern. Im Gespräch spürte ich dieses diffuse Gefühl von Stolz auf diese Zeit – aber auch die Trauer über die, die zu früh gegangen sind.
Nun ist es noch eine Handvoll der ehemals vor Energie und Kraft strotzenden Kicker, die sich ab und an treffen. Sie sind über den Fußball verbunden – und auch als Freunde. In zehn oder zwanzig Jahren wird die Erinnerung an ein Leben voller Fußball verblassen. Die Chroniken von Walter Meyerhoff bleiben – und er selbst wird uns hoffentlich noch lange erhalten bleiben, denn trotz seiner 86 Jahre geht er regelmäßig ins Fitnessstudio und seine Energie ist spürbar. Er hat viele Geschichten zu erzählen. Wie er zum Beispiel Gunter Sachs trainierte, damit dieser in einem Promispiel im Tor spielen konnte – was er übrigens mit Bravour tat. Aber nicht nur über den Fußball weiß Meyerhoff zu berichten, sondern auch über die Gastronomieszene der 60er und 70er Jahre. Mal sehen, was er uns noch für Geschichten erzählt …
In den nächsten zwei Wochen werden die verschiedenen Punktrunden in den Fußball-Ligen Nordfrieslands beendet sein. Dann werden die Meister dieser Saison gekrönt. Der SCN hat gute Chancen auf den Meistertitel. Auch einige Jugendteams kämpfen noch um den Aufstieg. Und wer weiß – in 50 oder 60 Jahren sitzen die ehemaligen Spieler dieser Mannschaften vielleicht zusammen und schwelgen in Erinnerungen an eine Zeit, als eine lebenslange Freundschaft begann.
Geschrieben von: Alex Lenz / veröffentlicht am: 25.05.2025